Mai 8, 2023

Laudatio zur Verleihung des Hugo-Oppenheimer-Preises an den Arbeitskreis Stadtlohner Geschichte 1933-1945 am 7. Mai 2023

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrte Frau Höting, sehr geehrter Herr Balke,
sehr geehrte Mitglieder des Arbeitskreises Stadtlohner Geschichte 1933 bis 1945,
liebe Anwesende,

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Mit diesem Zitat aus dem Talmud hat der Künstler Gunter Demnig seine Idee von der Verlegung der Stolpersteine erklärt. Mit den Steinen vor den Häusern wird die Erinnerung an die Menschen lebendig, die einst hier wohnten. HIER WOHNTE…, steht darauf geschrieben. Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch.

Ich werde beim Namen gerufen. Angerufen zu werden, hat in der hebräischen Bibel – dem alten Testament – eine tiefe, eine wiederkehrende Bedeutung. Es geht um mich und darum, herausgerufen zu werden – aus der Menge anderer, auch aus dem, was mich belastet und einengt, damit etwas Neues entstehen kann.

Schülerinnen und Schüler aus Coesfeld, die einen Podcast über das Wirken von Hugo Oppenheimer gemacht haben, hatten sinnbildlich einen solchen Wunsch. Ihnen war es ein Anliegen, dass die Vergangenheit in die Gegenwart strahlt, wie mir ihre Lehrerin, Frau Tanja Unewisse, berichtet hat. Dass es etwas gibt, das über den tragischen Tod eines sozial und politisch engagierten Menschen wie Hugo Oppenheimer hinaus Wirkung zeigt.

Deshalb freue ich mich sehr, dass heute, an einem Sonntagvormittag, so viele Menschen zusammengekommen sind. Menschen aller Generationen, um die Mitglieder des Arbeitskreises Stadtlohner Geschichte 1933-1945 und deren besonderes Engagement zu ehren. Endlich – möchte ich hinzufügen.

Denn Ihnen, sehr geehrter Herr Balke – und ich denke, ich darf auch für die übrigen Mitlieder des Arbeitskreises sprechen – waren Zeitgeist, Zuspruch und öffentliche Anerkennung nie wichtig, wie der frühere Schulleiter dieser Schule, Herr Ludger Terfrüchte, mir gegenüber betonte. Ihnen geht es allein um das Schicksal der Stadtlohner Juden, das Ihnen nachhaltig und beständig nah ist. Gerade in Zeiten sozialer Medien ist es ein Leichtes und ein Stück wohlfeil, seine Gesinnung ins Schaufenster zu stellen. Bedeutsamer ist es, aktive Erinnerungsarbeit zu leisten und den Menschen, die dies tun, öffentlich die Anerkennung zuteilwerden zu lassen, die sie verdienen.

Der VHS-Arbeitskreis Stadtlohner Geschichte 1933-1945 begann seine Arbeit im September 2009. Anstoß dafür war – neben den frühen Forschungen von Christoph Spieker – die Neubenennung der Städtischen Realschule in „Herta-Lebenstein-Realschule“. Dieser Prozess wurde entscheidend durch den damaligen stellvertretenden Schulleiter Josef Balke begründet.

Vorrangiges Thema des Arbeitskreises war die Erforschung der Geschichte der jüdischen Familien am Ort. Die VHS aktuelles forum bot dafür die organisatorische und finanzielle Unterstützung. Vielen Dank an dieser Stelle dafür!

Die Recherchen wurden sehr gründlich vorgenommen und erfüllen hinsichtlich Quellenauswertung, Literatursichtung oder Zeitzeugen-Befragungen wissenschaftliche Kriterien. Diese Recherchearbeit bereite schließlich die Verlegung von Stolpersteinen durch den Künstler und Initiator des – mittlerweile internationalen – Projekts Gunter Demnig vor. Die Stolpersteine wurden nach und nach über einige Jahre verlegt, jeweils nach Erforschung der jeweiligen Einzelfamilien.

Es gab bisher folgende Verlegungen:

  • im Juni 2010 für die Familien Lebenstein und Stein,
  • im September 2011 für die Familien Falkenstein und Lebenstein,
  • im Dezember 2012 für die Familie Meijers/Meyers,
  • im Dezember 2014 für Familie Kleffmann und
  • im Dezember 2018 für die Familie Goldschmidt und für Rosa Oppenheimer (sie ist die Schwester von Hugo Oppenheimer).

Im kommenden Dezember 2023 ist die Verlegung von weiteren (und vermutlich letzten Stolpersteinen in Stadtlohn) geplant, und zwar für Familie Sturmlaufer, Elisabeth Kaiser und Vikar Johannes Klumpe.

Die Recherchen des Arbeitskreises haben in einigen Fällen zu neuen Kontakten mit den jüdischen Familien geführt und zu Besuchen aus Israel, Australien, den Niederlanden.

Den Mitgliedern war und ist es außerdem ein Anliegen, ihre Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu tragen. Und so entstanden – außer den Stolpersteinen – Dokumentationen zu den einzelnen Familien, Flyer, eine Ausstellung, eine Internet-Seite sowie Stadtrundgänge. Ein Buch zur Stadtlohner jüdischen Geschichte ist in Arbeit.

Der Holocaust war eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Es ist wichtig, die historische Wahrheit über das, was passiert ist, aufrechtzuerhalten, um sicherzustellen, dass sich solche Verbrechen niemals wiederholen.

Mit der Recherche seiner Lebensgeschichte geben Sie, sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger, die Erinnerung an jeden einzelnen der ermordeten Menschen zurück – gegen das Vergessen. Es ist eine lebendige Erinnerungskultur. Lebendig deshalb, weil sie nicht in Ritualen und Formeln erstarrt, sondern die breite Bevölkerung und insbesondere die junge Generation emotional anspricht, weil das Opfer ein Gesicht bekommt, weil sein Schicksal begreifbar macht, zu welch unfassbaren Verbrechen Menschen fähig sind. Wann immer kleine Kinder ihre Eltern fragen, warum diese seltsam glänzenden Steine im Boden eingelassen sind, werden diese antworten müssen. Und wann immer unser eigener Blick im Alltag auf der Straße nach unten schweift und wir zufällig einen Stolperstein erblicken, werden wir kurz erinnert.

Wir werden daran erinnert, in welche Abgründe unser Land bereits blickte. Eine Gesellschaft kann nicht mehr versagen, als in diesen Jahren geschehen. Vor allem aber werden wir daran erinnert, dass dieses mitten unter uns, vor unserer Haustür geschah. Stolpersteine legen den Finger in die Wunde. Sie zeigen, dass alles vor Ort anfing, dass dort der Terror wohnte. Das Unheil und Leid der Opfer wird „sprechend“, wie Sie, sehr geehrte Frau Höting, es treffend beschrieben haben. Erst derartig angesprochen beginnt man zu begreifen, dass so etwas nie wieder passieren darf. Viel nachhaltiger als durch abstrakte Denkmale an bezugslosen Orten.

Eine lebendige Erinnerungskultur wird von Menschen getragen, die Verantwortung übernehmen: Verantwortung für ihre eigene, heutige Gesellschaft mit deren Vergangenheit. Sie, liebe Frau Höting, lieber Herr Balke und alle anderen Mitglieder des Geschichtskreises, stellen sich in besonderer, anerkennenswerter Weise Ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.

Sie regen mit Ihrer Tätigkeit und Ihren Aktivitäten zum Nachdenken darüber an, dass wir immer die Wahl haben, wie wir uns entscheiden, wie wir handeln. Denn machen wir uns nichts vor: Über lange Zeit erlagen wir der Annahme, dass einmal erreichte gesellschaftliche Errungenschaften langfristig stabilen Bestand haben werden und darauf aufbauend nur eine weitere Perfektionierung stattfindet. Sind Demokratie, Marktwirtschaft und Multilateralismus einmal installiert, dann wirkt gleichsam der Effekt einer Sperrklinke, der vor Rückfall schützt – so nahm man an. Dieser Glaube führte nach der Wende in den 1990er Jahren zu Spekulationen über ein „Ende der Geschichte“ und in Deutschland zu dem lauter werdenden Ruf nach einem sogenannten Schlussstrich bezogen auf die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Gräueltaten. Doch nicht erst der von Russland ausgehende Krieg gegen die Ukraine zeigt uns, wie dünn die Decke der Zivilisation in Wahrheit ist. Auch in Deutschland haben wir mit einem zunehmenden Antisemitismus zu tun, mit einem aggressiver werdenden Ton in den politischen Debatten und mit demokratisch gewählten Parlamentariern, die angesichts der Nazi-Zeit von einem Vogelschiss der Geschichte sprechen.

Doch die Zerbrechlichkeit sozialer Ordnungen zu erkennen, bedeutet nicht, vor ihr zu kapitulieren. Denn wir haben Mittel dagegen. Unsere Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, zu reflektieren, uns zu erinnern, Verstorbenen künstlerisch und architektonisch zu gedenken, ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln, diese Fähigkeiten machen uns zu mitfühlenden Menschen. Sie sind womöglich unsere größten Errungenschaften. 

Schöpfen wir Mut! Denn wir haben Menschen mit diesen Fähigkeiten unter uns. Die Frauen und Männer des Arbeitskreises Stadtlohner Geschichte 1933-1945. Deren Leistungen wollen die Stadtlohner Sozialdemokraten mit der Verleihung des Hugo-Oppenheimer-Preises würdigen. Herzlichen Glückwunsch!

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